Dampflokomotive mit Geschwindigkeitsüberwachung: Eb 3/5 9 und ein ZUB 262 ct - es funktioniert !
Die in der Schweiz angewandte Zugbeeinflussung auf Strecken mit optischer Signalisierung kennt von der Funktion her zwei Stufen:
Reaktiv mit Halt- und Warnungsauswertung: Der Zug wird nach Überfahrt über ein Halt zeigen-des Signal zwangsgebremst; auf eng dimensionierten Anlagen kann sich dadurch immer noch das Eindringen in den Gefahrenraum ergeben
Proaktiv mit Geschwindigkeitsüberwachung: Der Zug wird während der Zufahrt auf das Halt zeigende Signal auf Einhaltung der erforderlichen Bremskurve überwacht. Das Eindringen in den Gefahrenraum ist im Normalfall ausgeschlossen
Während mittlerweile bereits viele historische Triebfahrzeuge, sowohl Dampf- wie Elektroloks, über die Halt- und Warnungsauswertung verfügen, kommt die Geschwindigkeitsüberwachung bisher erst bei «jungen» historischen Triebfahrzeugen zum Einsatz, welche diese bereits in ihrer aktiven Plandienstzeit eingebaut bekamen. Nachrüstungen mit Geschwindigkeitsüberwachung sind ganz selten und betrafen bisher nur elektrische Triebfahrzeuge. Am 18. Juli 2020 fand nun der schweizweit erste kommerzielle Einsatz einer Dampflokomotive mit Geschwindigkeitsüberwachung statt. Pionierin die Eb3/5 9 des Dampfloki-Club Herisau (DLC), die durch den Dampfbahn-Verein Zürcher Oberland (DVZO) in Bauma betreut wird.
Im Rahmen der vom HECH herausgegebenen generischen Risikoanalyse zum Verkehren von Trieb-fahrzeugen ohne ausreichende Zugbeeinflussung ergab sich über die Firma Enotrac, Thun, ein Kontakt zu zwei Absolventen des Studiengangs Verkehrssysteme an der Scool of Engineering der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur. Als eine von diversen Massnahmen aus der Risikoanalyse wurde mit dem Bundesamt für Verkehr (BAV) vereinbart, nach Möglichkeit Stu-dien zur Integration von Geschwindigkeitsüberwachungen auf historischen Triebfahrzeugen durchzufüh-ren. Dieter Würgler als Senior-Chef der Enotrac und massgeblich Mitwirkender an der genannten Risi-koanalyse motivierte Stefan Schnüriger und Christian Lobsiger, zwei Studenten eines von ihm zusam-men mit der Dozentin Monika Reif durchgeführten Kurses aus dem Studiengang, sich für die Projekt- und Bachelorarbeit der Thematik anzunehmen.
Ziel der Arbeit war, erstens die grundsätzliche Möglich-keit einer Integration der Apparatur aufzuzeigen und zweitens die Option ihrer raschen und einfachen Auswechselbarkeit zu untersuchen. Dies würde es den interessierten Fahrzeughaltern erlauben, ihre Lokomotiven nur teilweise mit fixen Installationen auszurüsten und das wesentlich teurere Herzstück fallweise auf dem einen oder anderen Triebfahrzeug einzusetzen.
Als Versuchsträger boten DVZO und DLC dem Team die Dampflok Eb3/5 9 an. Diese Lok ist mit der Halt-/Warnungsauswertung ETM-S ausgerüstet und verfügt somit bereits über die nötigen ETCS-Antennen, die Stromversorgung und die Verkabelung. Als Industriepartner war zudem Siemens Mobility beteiligt mittels vorübergehender Ausleihung eines mobilen Versuchsgeräts ZUB 262 ct. Das stets in-volvierte BAV war der Sache wohlwollend eingestellt und verfügte aufgrund der eingereichten Unterla-gen schon frühzeitig eine Betriebsbewilligung für Test- und kommerzielle Fahrten mit der neuen Anlage.
Mit grossem Elan machten sich die beiden Absolventen ans Werk. Aufgrund der Lockdown-bedingten Einschränkungen wäre die ZHAW mit einer rein theoretischen Abfassung der Qualifikationsarbeiten zufrieden gewesen. Stefan Schnüriger und Cristian Lobsiger liessen es sich aber nicht nehmen, auf freiwilliger Basis auch den Praxisnachweis zu erbringen. So wurde die 110-jährige Dampflok einige Ta-ge lang in Behandlung genommen, letztlich einiges länger als man es sich zunächst gedacht hatte.
Pünktlich zum angesetzten Termin der Testfahrten am 17. Juli 2020 wurde die Installation aber beendet. Unter der Leitung eines Probefahrtleiters und in Absprache mit der Infrastrukturbetreiberin durfte oder musste der Lokführer viele Sachen machen, die ihm sonst verboten sind, wie Abfahren bei Halt zeigen-dem Ausfahrsignal, nicht befreien bei nachschaltendem Signal, zu schnell fahren und einiges mehr. Das eingebaute System musste richtig reagieren und wurde vom Experten dabei als betriebssicher und stabil befunden.
Am Folgetag fand eine kommerzielle Fahrt von Bauma nach Winterthur und zurück statt, zu der die un-terstützenden Partner sowie die Absolventen und ihre Klasse eingeladen waren. Während der Fahrt zeigte es sich, dass die Geschwindigkeitsüberwachung tadellos funktionierte, ohne den Betrieb einzu-schränken. Leider lief die Ausleihdauer des Geräts ab, so dass Stefan Schnüriger und Cristian Lobsiger bereits unmittelbar nach Rückkunft in Bauma den Rückbau in Angriff nehmen mussten. Ihnen bleibt der Leistungsausweis, innert kurzer Zeit und unter teilweise widrigen Umständen eine stabile Erstkonfigura-tion geschafft zu haben. Damit erwiesen sie dem Werbeslogan ihrer Fachhochschule «Wir bilden fähige Ingenieure aus» alle Ehre.
Bis auf weiteres kommt nun auf der Eb3/5 9 wieder das ETM-S zum Einsatz. Die Erkenntnisse aus dem kurzzeitigen Versuch sind aber sehr wertvoll. Zum einen wurde gezeigt, dass die Integration der Ge-schwindigkeitsüberwachung auf historischen Triebfahrzeugen, ja sogar auf Dampflokomotiven, möglich ist und auch als Ersatz bzw. Ergänzung eines bisherigen ETM-S funktioniert. Zum anderen wurde quasi ein «Rezeptbuch» geschrieben, auf was Fahrzeughalter bei einer Integration des Systems zu achten haben. Drittens wurde gezeigt, dass und wie ein Regime für den wechselseitigen Einsatz eines Geräts auf mehreren Triebfahrzeugen möglich ist.
Für die Halter von historischen Fahrzeugen ist eine Integration der Geschwindigkeitsüberwachung ZUB 262 ct bis auf weiteres eher weniger eine valable Option. Grund dafür ist das ökonomische Modell von Museums- und anderen historischen Bahnen, mit verbleibender Lebenszeit «ausrangierter» Produkte immer noch operative Tätigkeiten durchzuführen. Spenden und Verkehrserlöse reichen im besten Fall für die zwingend nötige Aufarbeitung von Verbrauchssubstanz wie Dampfkessel, Radsätze oder Moto-ren. Sollen weitere Aufwände integriert werden, droht das finanzielle Modell zu kippen, weil höhere Prei-se vom eher dünnen Markt kaum mehr akzeptiert werden. Sogar wenn hochspezialisierte Tätigkeiten wie Engineering und Einbau der Systeme auf ehrenamtlicher Basis erfolgen (andernfalls kann sich der finanzielle Aufwand leicht verdoppeln bis verdreifachen), ist der aktuelle Preis des nach wie vor markt-reifen ZUB 262 ct von rund 60’000 Franken nicht mit dem Businessplan der meisten historischen Fahr-zeughalter kompatibel. Auch hier besteht die naheliegendste Option darin, die Restlebensdauer von abgekündeten Systemen nach Ablauf der Marktreife zu nutzen. So ist aktuell etwa das bald 30-jährige Vorgängermodell ZUB 121 mehr oder weniger kostenlos im «Graumarkt» greifbar. Jedoch wird es durch den Hersteller nicht mehr gepflegt, die professionellen Know-how-Träger werden allmählich selten und die Restlebensdauer bei elektronischen Systemen ist in der Regel auch nicht so lange wie bei stähler-nen Geräten wie der Eb3/5 9, die heuer ebenso viele Jahre im historischen Einsatz (1965-2020) wie seinerzeit im planmässigen Verkehr (1910-1965) zählen darf.
Sollte aber jemand über einen zahlungskräftigen Sponsor verfügen, so ist ein Kauf des ZUB 262 ct ge-rade aus Gründen der Betriebssicherheit und der Existenzgarantie eines historischen Triebfahrzeugs sehr zu empfehlen. Und für die Integration haben wir nun dank den frischgebackenen «Bachelors of Science in Verkehrssysteme ZFH» Stefan Schnüriger und Cristian Lobsiger eine praktische Anleitung.
Beteiligt waren:
HECH: Patronage
ZHAW SoE Winterthur: Qualifikationsarbeit, logistische Unterstützung
Dieter Würgler, Enotrac: Koordination, Motivation, logistische Unterstützung
DVZO: Organisation der Fahrten, Personal und Wagen
DLC: Dampflok Eb3/5 9
Siemens Mobility, Wallisellen: Ausleihgerät Trainguard ZUB 262 ct und Beratung
BAV: Aufsichtsbehörde und Aussteller der Betriebsbewilligung
TR Transrail: Eisenbahn-Verkehrsunternehmung
SBB: Infrastruktur-Betreiberin